Die Rückwirkungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Greifen Gesetze, die den Bürger belasten, nachträglich ändernd in bereits abgewickelte Tatbestände ein, so liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine grundsätzlich unzulässige echte (retroaktive) Rückwirkung vor. Das maßgebliche Kriterium für die grundsätzliche Verfassungswidrigkeit derartiger echter Rückwirkungen ist demnach das Vorliegen eines abgeschlossenen Tatbestandes und die Schlechterstellung (Belastung) des Bürgers nach der neuen Rechtslage. Demgegenüber sieht das Gericht die sog. „unechte“ (retrospektive) Rückwirkung als grundsätzlich zulässig an. Eine unechte Rückwirkung entfaltet eine Norm dann, „wenn sie zwar nicht auf vergangene, aber auch nicht auf zukünftige, sondern auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet“. Ausnahmsweise ist nach der Rechtsprechung aber auch eine unechte Rückwirkung mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar, wenn bei einer Abwägung des Vertrauensinteresses des Bürgers auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung mit der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit das Vertrauen auf die bestehende Rechtslage den Vorrang verdient (Abwägung zwischen Allgemein- und Individualinteresse). Ohne auf die im Einzelfall als problematisch einzustufende Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung einzugehen, scheint hiernach ein recht weitreichender Schutz des Bürgers zumindest gegen rückwirkende Gesetze gewährleistet zu sein. Tatsächlich ist dies jedoch nur bedingt der Fall. Das Bundesverfassungsgericht hat einen Katalog von Ausnahmen geschaffen, nach denen sich auch eine echte Rückwirkung als zulässig erweist. Es sieht das Vertrauen des Bürgers dann nicht als schützenswert an, wenn• „der Bürger nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser Regelung rechnen musste“,
• die Rechtslage sich als „unklar und verworren“ erweist,
• die Rechtsgrundlage sich als nichtig herausgestellt hat und der Gesetzgeber deshalb rückwirkend die nichtige Bestimmung durch eine verfassungsrechtlich „nicht zu beanstandende Norm“ ersetzt,
• „zwingende Gründe des gemeinen Wohls, die dem Gebot der Rechtssicherheit übergeordnet sind, eine Rückwirkungsanordnung rechtfertigen“.
Darüber hinaus erkennt es eine rückwirkende Gesetzesänderung an,
• wenn durch sie „kein oder nur ganz unerheblicher Schaden“ zu befürchten ist.
Dieser Katalog ist kein solcher abschließend zulässiger Ausnahmen, sondern insgesamt Ausdruck dafür, dass Vertrauen sich als nicht schützenswert erweist, sofern es „sachlich nicht gerechtfertigt“ ist. Ob ein Gesetz Rückwirkung entfaltet, ermittelt das Bundesverfassungsgericht nach dem im Einzelnen in Betracht kommenden Tatbestand. Auf den ersten Blick scheint die Differenzierung eine deutliche Abgrenzung der echten von der unechten Rückwirkung und diese wiederum von einer schlichten Rechtsänderung zu ermöglichen. Aus dem Vorgenannten ließe sich in Bezug auf den Bürger folgern:• Gesetze, die bereits abgewickelte Tatbestände erneut regeln, sind grundsätzlich unzulässig,
• Gesetze, die auf gegenwärtige, in der Vergangenheit begonnene, aber noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirken und zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich im Ganzen entwerten, erfahren allenfalls ausnahmsweise verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz,
• alle anderen Gesetze fallen nicht unter den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz.
„Andere Gesetze“ in diesem Sinne wären solche Normen, die Sachverhalte und Rechtsbeziehungen regeln, welche noch nicht abgeschlossen sind, und zudem nicht zu einer nachträglichen Entwertung der betroffenen Rechtsposition führen. Ferner werden hierunter solche Gesetze verstanden, die nur zukünftige Sachverhalte, Regelungen oder Rechtsbeziehungen erfassen sollen. Von der Zulässigkeit einer Rückwirkung und damit der Frage, ob eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes vorliegt, ist die tatbestandliche Betroffenheit des Vertrauensschutzes zu unterscheiden. So findet eine Prüfung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes regelmäßig auch bei Gesetzen mit lediglich unechter Rückwirkung statt, wobei das Gericht, wie schon erwähnt, das private Bestandsinteresse mit dem öffentlichen Änderungsinteresse abwägt. Der Anwendungsbereich des Vertrauensschutzes ist also auch bei einer unechten Rückwirkung regelmäßig eröffnet, wenn diese auch im Ergebnis für grundsätzlich zulässig erachtet wird.siehe im Einzelnen ausführlicher und mit Nachweisen, insbesondere zu einer Rückwirkung auf den Zeitpunkt des Regierungsbeschlusses, hier abrufbar als pdf-Datei:
Die Rückwirkungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Rechtssicherheit als Freiheitsschutz, 2009, Kap. 3, S. 29-56