Kindergeld und ALG II
Rückforderung von Kindergeld, das auf SGB II-Leistungen bedarfsmindernd angerechnet wurde
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde im Ergebnis, Bundesverfassungsgericht, Az. 1 BvR 846/19, gegen Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 13.9.18, Az. III R 19/17
Die Entscheidung betrifft den Fall einer nachträglichen, von der Familienkasse erhobenen Rückforderung von Kindergeld, das schon auf SGB II-Leistungen bedarfsmindernd vom Jobcenter angerechnet wurde. Eine solche Rückforderung hat der Bundesfinanzhof (BFH) in der oben genannten Entscheidung für rechtmäßig angesehen und das entgegenstehende erstinstanzliche Urteil des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichtes in Kiel aufgehoben, das die Familienkasse verpflichtet hatte, die Rückforderung zu erlassen. Gegen das Urteil des BFH richtete sich die Verfassungsbeschwerde. Zu einer Entscheidung in der Sache kam es nicht mehr durch das Bundesverfassungsgericht, weil die Familienkasse es vorzog, den Rückforderungsbescheid doch noch nachträglich "wegen Unbilligkeit" zu erlassen (ohne weitere Begründung - dabei ging es im gesamten Verfahren um nichts anderes als um den Erlass der Rückforderung aus Gründen der Billigkeit).
Zum Teil wird in der Literatur die Rechtsprechung des BFH zwar als rechtmäßig betrachtet - vgl. dazu ORR Christian Stahl, Der Erlass von Kindergeldrückforderungen bei Sozialhilfeempfngern, in: juris-Monatszeitschrift 11/2020, S. 432 ff.Allerdings hat die Bürgerbeauftragte des Landes Schleswig-Holstein in ihrem Tätigkeitsbericht 2018 die Familienkassen aufgefordert, in vergleichbaren Fällen auf eine Rückforderung zu verzichten,
- Tätigkeitsbericht der Bürgerbeauftragten für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein 2018, "Kindergeld: Verzicht auf Rückforderungen bei SGB II-/SGB XII-Leistungen", S. 20 f.Auch nach der Stellungnahme des "Vereins für öffentliche und private Fürsorge" als sachkundiger Dritter im genannten Verfahren der Verfassungsbeschwerde dürfte eine Rückforderung der Familienkassen insofern als rechtswidrig anzusehen sein, als es sachgerecht erscheine, die §§ 102 ff. SGB X analog anzuwenden - wodurch die Familienkasse wie ein (Sozial)Leistungsträger zu behandeln wäre und die Rückforderung damit nicht gegenüber dem Bürger erhoben werden dürfte,
-Stellungnahme der Geschäftsstelle des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. als sachkundiger Dritter (§ 27a BVerfGG) in dem Verfahren BVerfG 1 BvR 846/19Verfassungsjuristisch maßgeblich dürfte sein, dass der BFH selbst SGB II-Leistungen und Kindergeld als gleichartig, ja sogar im Ergebnis als "gleichartig in einem engen Sinne" in anderen Entscheidungen angesehen hat, was den Grundrechtstatbestand des Gleichheitsgrundsatzes aus Artikel 3 Abs. 1 GG öffnet. Zugleich nennt der BFH aber kein Argument für eine Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung, obschon er insoweit die Argumentationslast tragen dürfte dürfte. Zu einer Gleichbehandlung gemäß Artikel 3 Abs. 1 GG wäre er daher verpflichtet (vgl. auch Art. 1 Abs. 3 GG).
BVerfG, Beschluss vom 5.3.21, Az. 1 BvR 846/19 Instanzenzug:- Stellungnahme der Geschäftsstelle des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. als sachkundiger Dritter (§ 27a BVerfGG) in dem Verfahren BVerfG 1 BvR 846/19
- ORR Christian Stahl, Der Erlass von Kindergeldrückforderungen bei Sozialhilfeempfängern, in: juris-Monatszeitschrift 11/2020, S. 432 ff.
- Tätigkeitsbericht der Bürgerbeauftragten für soziale Angelegenheiten des Landes Schleswig-Holstein 2018, "Kindergeld: Verzicht auf Rückforderungen bei SGB II-/ SGB XII-Leistungen", S. 20 f.
- Riechelmann, Anmerkung zu BFH, Beschluss v. 23.02.2015, Az. III B 41 /14: Keine Entscheidung über Billigkeitsmaßnahme im Verfahren über Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung, DStRE (Deutsches Steuerrecht - Entscheidungsdienst, Verlag C.H.Beck) 2016, S. 624 f., S. 625 f.Zusammenfassung - Druckdatei (pdf): Kindergeld und ALG-Leistungen.pdf © Frank Riechelmann