Mit der Unvereinbarerklärung fügt das Bundesverfassungsgericht eine Ausnahme in die verfassungsrechtlich zu beanstandende gesetzliche Regelung ein, wodurch diese weiterhin gilt (geltungserhaltende Reduktion). Hierzu näher...

BVerfGE 117, 163 - Anwaltliche Erfolgshonorare

Teilnichtige Gesetze

Zeitschrift für Rechtsphilosophie (ZRph), Münster 2009, S. 83-94

Wenn ein Gesetz nichtig ist, ist herkömmlich gemeint, dass es vollständig nichtig ist.

Graduelle Nichtigkeit

Ein Gesetz kann aber auch nur zum Teil nichtig sein: Der Begriff der Nichtigkeit und der Begriff der Verfassungswidrigkeit haben einen graduellen Charakter. Ein verfassungswidriges oder nichtiges Gesetz ist nicht notwendigerweise vollständig verfassungswidrig oder vollständig nichtig. Es ist zu zeigen, dass die Unvereinbarkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu teilnichtigen Gesetzen führt.

Geltungserhaltende Reduktion von Gesetzen

Diese Rechtsprechung lässt sich so verstehen, dass das Bundesverfassungsgericht eine Ausnahme in die als verfassungswidrig erkannte gesetzliche Regelung einfügt, wodurch diese im Übrigen erhalten bleibt (geltungserhaltende Reduktion). Einem Einwand, wonach das Bundesverfassungsgericht damit quasi zu einer Art „Ersatzgesetzgeber“ würde und es dafür einer erst noch zu erlassenden verfassungsgesetzlichen Ermächtigung bedürfte (vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 2025, Rn. 952), wäre entgegenzuhalten, dass die Festlegung einer Ausnahme, die eine geltungserhaltende Reduktion bewirkt, hinter einer vollständigen Nichtigkeit zurückbleibt, die das Gericht anerkanntermaßen anzuordnen berechtigt wäre.

Anwaltliche Erfolgshonorare (BVerfGE 117, 163)

Beachtet man nicht, dass es zu (nur) teilnichtigen Gesetzen führen kann, sind unhaltbare Ergebnisse möglich. Deutlich wird dies anhand des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zu den „anwaltlichen Erfolgshonoraren“ vom 12. Dezember 2006, Az. 1 BvR 2576/04 ( = BVerfGE 117, 163). Das Gericht konstatiert eine „Verletzung“ des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und einen (bloßen) „Verstoß“ gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Diese schon terminologisch unzutreffenden Formulierungen hatten durchaus nachteilige Konsequenzen für die Beschwerdeführerin. In der Folge habe nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts das gesetzliche Verbot anwaltlicher Erfolgshonorare für eine Übergangszeit noch weiterhin anwendbar bleiben müssen, weshalb das Gericht die berufsgerichtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin verfassungsrechtlich nicht beanstandete (ebd., Rz. 112). Dies war jedoch keineswegs zwingend: Es lag ein gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerichteter Verstoß vor, der das Grundrecht der Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzte. Das Bundesverfassungsgericht hätte die berufsgerichtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin daher eigentlich aufheben müssen. Es hätte ohne Weiteres selbst die Ausnahmevorschrift, deren Erlass es erst noch vom Gesetzgeber verlangte, in die geltende Regelung einfügen können. In diesem Sinne ließ sich die durch den Beschluss des Gerichts insoweit veränderte gesetzliche Regelung durchaus schon verstehen: Bereits mit dem Erlass der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat das Verbot anwaltlicher Erfolgshonorare nicht mehr vollumfänglich gegolten.

Genereller Schutz für Anwälte, aber nicht für die betroffene Anwältin?

Eine Kritik würde vermutlich anführen, dass der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aber doch „anders“ lautete, und zwar schon vor allem deshalb, weil die Beschwerdeführerin (Betroffene) keinen Schutz erhielt. Gleichwohl gibt es maßgebliche verfassungsrechtliche Gründe dafür, die Entscheidung des Gerichts dennoch in dem hier vorgeschlagen Sinne zu verstehen. So benachteiligt der Beschluss die Betroffene im Vergleich zu anderen Anwältinnen und Anwälten, für die er die Möglichkeit eines Schutzes durch die Verfassung sogar eröffnet; der Beschluss behandelt die Betroffene anders als die anderen Adressaten der gesetzlichen Regelung (Anwältinnen und Anwälte im Allgemeinen, Rechtsanwaltskammern). Denn für eine Übergangszeit bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber war es den Anwaltskammern letztlich freigestellt, Verstöße gegen das gesetzliche Erfolgshonorarverbot zu verfolgen (vgl. dazu die Übergangsregelung im Tenor zu Ziffer 1 am Ende, BVerfGE 117, 163). Damit wurde den Anwaltskammern die Möglichkeit eingeräumt, ihren Mitgliedern den verfassungsrechtlichen Schutz zuteil kommen zu lassen, den das Bundesverfassungsgericht der Betroffenen versagte. Warum hätte denn auch eine Anwaltskammer ihren Mitgliedern einen grundrechtlichen Schutz im Sinne der Begründung der Entscheidung überhaupt noch verwehren sollen? Welche Anwaltskammer hätte in einem vergleichbaren Fall noch ein entsprechendes berufsrechtliches Verfahren eingeleitet, wenn sie dazu nicht mehr verpflichtet war? Soweit das gesetzliche Erfolgshonorarverbot nicht mehr ausnahmslos anzuwenden war, lautete die Entscheidung jedenfalls nicht „anders“.

Falschformel, Art. 3 Abs. 1 GG und Gemeinwohl

Die Betroffene wurde gleichheitswidrig (vgl. Art. 3 Abs. 1 GG) gegenüber anderen Anwältinnen und Anwälten behandelt, für die das ausnahmslose gesetzliche Verbot, Erfolgshonorare zu vereinbaren, nicht mehr notwendigerweise galt (ausweislich des Tenors der Entscheidung, Ziffer 1). Auch das Bundesverfassungsgericht kann sich nicht auf eine Betrachtung stützen, nach der angeblich eine „Verletzung“ des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht zwingend auch eine Verletzung des betroffenen Grundrechts bedeuten würde. Denn eine solche Sichtweise stellt nichts anderes als eine Falschformel dar, die das Ergebnis der Verweigerung eines grundrechtlichen Schutzes für die Betroffene nicht tragen kann. Darüber hinaus geht die Möglichkeit einer Nicht-Anwendung des gesetzlichen Erfolgshonorarverbot nach der Übergangsregelung noch weiter, nämlich so weit, das Erfolgshonorarverbot für die Übergangszeit bis zur Neuregelung überhaupt nicht mehr anzuwenden, was in Widerspruch zur Begründung der Entscheidung steht, wonach das Erfolgshonorarverbot erforderlich und grundsätzlich auch als angemessen angesehen wird (BVerfGE 117, 163, Rn. 93 ff.). Zusammengefasst liegen also mehrere Wertungswidersprüche vor, und zwar sowohl im wesentlichen grundrechtsrelevanten Bereich der Betroffenen als auch im Bereich des öffentlichen Interesses. Das Gericht unterstellt eine unrichtige Prämisse (Falschformel), die lautet, dass angeblich ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine Grundrechtsverletzung nicht notwendigerweise begründet. Es behandelt die Betroffene gleichheitswidrig gegenüber „anderen“ (gleichen) Adressaten der beanstandeten Regelung. Außerdem eröffnete es entgegen der eigenen Begründung die Möglichkeit einer vollständigen Aussetzung des gesetzlichen Erfolgshonorarverbotes für die Übergangszeit.

Interpretation

Die Entscheidung des Gerichts wird nicht von ihren Gründen getragen. Dass das Bundesverfassungsgericht schon selbst die Ausnahme, die es eigentlich erst noch vom Gesetzgeber zu erlassen verlangte, in die gesetzliche Regelung eingefügt hat, stellt nicht etwa bloßes „Wunschdenken“ dar. Vielmehr handelt es sich dabei um eine gebotene Interpretation der Entscheidung, weil nicht ersichtlich ist, dass die Wertungswidersprüche in anderer als der hier vorgeschlagenen Weise aufzulösen wären. Soweit also eine Grundrechtsverletzung und damit ein Schutz für die Betroffene sowie eine eingeschränkte, aber nicht optionale Geltung des Erfolghonorarverbots im Sinne der Begründung des Gerichts auch in der Übergangszeit bejaht werden, lässt sich dies auf die Begründung der Entscheidung stützen. Insofern handelt es sich auch noch nicht einmal um eine Auslegung contra curiam, aber intra ius, wie man aber vielleicht meinen könnte.

Fazit

Wenn das Bundesverfassungsgericht verfassungswidrige Gesetze vollumfänglich verwerfen darf, darf es sie erst recht (geltunsgerhaltend) reduzieren, indem es eine Ausnahmeregelung in sie einfügt. Auf diese Weise bleiben sie als solche weiterhin erhalten -- womit von ihnen (viel) „mehr“ übrig bleibt, als wenn es sie verwerfen würde. Eine durch eine (vollumfängliche) Verwerfung eines Gesetzes bewirkte Rechtsgestaltung geht deutlich über eine solche hinaus, bei der ein Gesetz erhalten bleibt, in das eine Ausnahme eingefügt wird. Die Kompetenz, verfassungswidrige Gesetze geltungserhaltend zu reduzieren, ist daher dem Gesetzverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts immanent. Zudem erweist sich die vorstehende Betrachtung als geboten, um unhaltbare Wertungswidersprüche auf Verfassungsebene zu vermeiden. Aus diesen Gründen bedarf es keiner zusätzlichen (verfassungs)gesetztlichen Regelung mehr. Eine „quasi-legislative“ Kompetenzanmaßung liegt nicht vor, und das „Ersatzgesetzgeber“-Gegenargument verfängt nicht. Mit der Unvereinbarkeitserklärung hat das Bundesverfassungsgericht eine Ausnahme in die gesetzliche Anordnung eingefügt, wodurch diese schon im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht mehr vollumfänglich gegolten hat.

© Aktualisiert 2025


Inhalt

1. Nichtigkeitsdogma und Vernichtbarkeit

2. Geltungserhaltende Reduktion

3. Anwaltliche Erfolgshonorare

siehe dazu auch und hier abrufbar als pdf-Datei:


Zum Thema s. schon:

  • Wasilios Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, Duncker & Humblot, Berlin 1973
  • Jens Blüggel, Unvereinbarerklärung statt Normkassation durch das Bundesverfassungsgericht, Duncker & Humblot, Berlin 1998

  • NEU überabeitete Zusammenfassung des Inhalts (pdf):

    https://jusplan.de