Zeitschrift für Rechtsphilosophie (ZRph), Münster 2009, S. 83-94
Teilnichtige Gesetze
Wenn ein Gesetz nichtig ist, ist herkömmlich gemeint, dass es vollständig nichtig ist. Ein Gesetz kann aber auch nur zum Teil nichtig sein: Der Begriff der Nichtigkeit und der Begriff der Verfassungswidrigkeit haben einen graduellen Charakter. Ein verfassungswidriges oder nichtiges Gesetz ist nicht notwendigerweise vollständig verfassungswidrig oder vollständig nichtig. Es ist zu zeigen, dass die Unvereinbarkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu teilnichtigen Gesetzen führt. Diese Rechtsprechung lässt sich so verstehen, dass das Bundesverfassungsgericht eine Ausnahme in die als verfassungswidrig erkannte gesetzliche Regelung einfügt, wodurch diese im Übrigen erhalten bleibt (geltungserhaltende Reduktion). Einem Einwand, wonach das Bundesverfassungsgericht damit quasi zu einer Art "Ersatzgesetzgeber" würde, wäre entgegenzuhalten, dass die Festlegung einer Ausnahme, die eine geltungserhaltende Reduktion bewirkt, hinter einer vollständigen Nichtigkeit zurückbleibt, die das Gericht anerkanntermaßen anzuordnen berechtigt wäre.
Beachtet man nicht, dass es zu (nur) teilnichtigen Gesetzen führen kann, sind unhaltbare Ergebnisse möglich. Deutlich wird dies anhand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den "anwaltlichen Erfolgshonoraren" vom 12. Dezember 2006, Az. 1 BvR 2576/04. Das Gericht konstatiert eine "Verletzung" des Verhältnismäigkeitsgrundsatzes und einen (bloßen) "Verstoß" gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Diese schon terminologisch unzutreffenden Formulierungen hatten durchaus nachteilige Konsequenzen für die Beschwerdeführerin. In der Folge habe nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts das gesetzliche Verbot anwaltlicher Erfolgshonorare für eine Übergangzeit noch weiterhin anwendbar bleiben müssen, sodass das Gericht auch die berufsgerichtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin verfassungsrechtlich nicht beanstandete (ebd., Rz. 112). Dies war jedoch keineswegs zwingend: Es lag ein gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerichteter Verstoß vor, der das Grundrecht der Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 GG verletzte. Das Bundesverfassungsgericht hätte die berufsgerichtliche Verurteilung der Beschwerdeführerin daher eigentlich aufheben müssen. Es hätte ohne Weiteres selbst die Ausnahmevorschrift, deren Erlass es erst noch vom Gesetzgeber verlangte, in die geltende Regelung einfügen können. In diesem Sinne ließ sich die -insoweit geänderte- gesetzliche Regelung infolge des Urteils des Gerichts denn auch durchaus schon verstehen: Bereits mit dem Erlass des Urteils des Bundesverfassungsgerichts hat das Verbot anwaltlicher Erfolgshonorare nicht mehr vollumfänglich gegolten.
Ein Kritiker der vorgenannten Betrachtung würde vermutlich einwenden, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aber doch anders lautet. Diesem Einwand wäre aber entgegenzusetzen, dass sich auch das Bundesverfassungsgericht nicht auf eine "Leerformel" stützen kann, die lautet, dass angeblich eine "Verletzung" des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht zwingend auch eine Verletzung des betroffenen Grundrechts bedeuten würde, und die als solche das Ergebnis nicht tragen kann.
siehe dazu auch und hier abrufbar als pdf-Datei:
Zum Thema s. schon: Wasilios Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, Duncker & Humblot, Berlin 1973